Das dritte Corona-Semester

Digitale Lehre aus Sicht der Beschäftigten

 

HLZ 5/2021: Digitalisierung

Vor einem Jahr haben Tausende von wissenschaftlichen Beschäftigten und Professor:innen nicht nur in Deutschland innerhalb weniger Tage oder Wochen das Lehrangebot – soweit möglich – in ein digitales Format gebracht. Mittlerweile sind zwei digitale Semester abgeschlossen und das dritte hat gerade begonnen. Im März resümierte das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), dass nur wenige Lehrveranstaltungen und Prüfungen in deutschen Hochschulen ausgefallen sind. Allerdings ist die Ausfallquote fächerspezifisch. Laborarbeit, Exkursionen und praktische Sportübungen gehören zu den Bereichen, die nicht so einfach in den digitalen Raum verlegt werden können. Die unsichere rechtliche Bewertung digitaler Prüfungen führt dazu, dass man auf andere Prüfungsformen ausweicht. (1)

Studierende drängten auf einen „Freischuss“ bei Prüfungen, wie ihn unter anderem der Senat der Universität Kassel beschlossen hat. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern reagierte das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst (HMWK) sehr schnell mit einem Erlass, dass digitale Lehrveranstaltungen genauso wie Präsenzlehre angerechnet werden. Doch im Dauermodus wäre eine deutlich höhere Anrechnung der Online-Lehre notwendig, denn der Organisationsaufwand rund um die Kommunikation mit Studierenden und Verwaltung ist deutlich erhöht und auch die Freischussregelung produziert Mehrarbeit für die Lehrenden.

Leider lässt die Regelung des HMWK offen, dass bestimmte Formen der Lehre ausfallen mussten, weil sie unter Corona nicht umsetzbar sind, aber auch, dass einige Beschäftigte aufgrund von Kinderbetreuung, Homeschooling und Pflegearbeit nicht ihre vollständige Lehrverpflichtung umsetzen können oder konnten. Das Nachholen der Lehre verschärft die Belastung von Beschäftigten mit hohem Lehrdeputat, so bei den Professor:innen an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaf- ten oder den Lehrkräften für besondere Aufgaben. Hier sind kollektive Entlastungen in der Lehre, eine Verringerung der Lehrverpflichtung und eine gerechtere Aufteilung von Prüfungen und Verwaltungsaufgaben geboten.

Trotz einer oft unzureichenden digitalen Infrastruktur hat die Umstellung auf Online-Formate gut funktioniert. Aber warum? Die Antwort liegt auf der Hand: Die prekären Beschäftigungsverhältnisse an den Hochschulen fördern die Selbstausbeutung im Interesse der Profession und des individuellen Überlebens im Hochschulsystem. Im dritten Corona-Semester wird die Ausnahmesituation zum gefühlten Dauerzustand. Dass alles scheinbar „irgendwie“ läuft, verdeckt die Tatsache, dass viele Kolleg:innen im Homeoffice an ihre persönlichen und gesundheitlichen Grenzen stoßen: Eine Videobesprechung folgt auf die andere, Kinder müssen wegen ganz oder teilweise geschlossener Schulen und Kindertagesstätten betreut werden, die Perspektiven für die eigene Forschung schwinden.

Schon vor der Pandemie war es üblich, dass wissenschaftliche Beschäftigte ständig verfügbar sein mussten, doch digitale Besprechungen und Konferenzen führen zu einer weiteren Entgrenzung des Arbeitstags. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz fokussiert sich ganz auf die Eindämmung des Corona-Virus, doch die Folgen von Überlastung und Mehrarbeit für die individuelle Gesundheit kommen zu kurz. Dabei entstehen auch absurde Situationen, dass Beschäftigte Präsenzklausuren mit vielen Teilnehmer:innen abnehmen sollen, aber mündliche Prüfungen in kleiner Runde abgesagt werden.

Die zunehmende Wichtigkeit der Lehre in der Pandemie wird bei der Bewertung der individuellen Leistung in Besetzungs- und Berufungskommissionen bisher nur unzureichend berücksichtigt. Dies wäre für die lehrenden Kolleg:innen genauso wichtig wie ihre Forschung.

Bei den meisten Beschäftigten mit Lehraufgaben kommen die eigenen Forschungsarbeiten zu kurz, auch wenn sie vertraglich vorgesehen sind. Zu der Überbelastung durch die digitale Lehre kommen geschlossene Archive, die Absage von Dienstreisen im In- und Ausland für mögliche Feldforschungen, Sammlungsreisen oder Datenerhebungen. Einiges kann mit anderen Methoden und Zugängen aufgefangen werden, andere müssen ihr Thema völlig neu fassen. Dies wirft Menschen in der Qualifikationsphase, aber auch ganze Forschungsprojekte zeitlich zurück und hat Auswirkungen auf die eigene wis- senschaftliche Biografie.

Daher ist es um so wichtiger, dass die bestehenden Möglichkeiten einer zwölfmonatigen Verlängerung für „Landesstellen“ genutzt werden. Nachdem eine weitere Corona-Verlängerung durch den Bund im März abgelehnt wurde, müssen die Corona-Verlängerungen unabhängig von der lokalen Finanzierung gegeben sein. Das müssen die Hochschulen lösen, zum Beispiel mit ihren Rücklagen, anstatt das Problem auf die Betroffenen abzuwälzen. Damit es keine Zwei-Klassen-Beschäfti- gung gibt, müssen auch für Drittmittelbeschäftigte Verlängerungen angeboten werden. Dies würde auch die Leistung der Beschäftigten würdigen, die neben der Arbeit im Homeoffice Sorgeaufgaben übernehmen müssen, die aufgrund von Corona von der Gesellschaft nicht mehr erbracht werden können.

Wissenschaftliche Laufbahnen standen schon immer auf wackeligen Füßen, aber jetzt muss konsequent gehandelt werden, damit Wissenschaftler:innen nicht wegen Corona ihren Beruf aufgeben müssen.

Dr. Simone Claar, Referat Hochschule und Forschung der GEW Hessen, Nachwuchs- gruppenleiterin an der Universität Kassel

(1) Studium und Lehre in Zeiten der Corona-Pandemie. Die Sicht von Studierenden und Lehrenden. Eine Analyse von Sonja Berghoff, Nina Horstmann, Marc Hüsch und Kathrin Müller. CHE März 2021, Download: www.che.de

Foto von Kay Herschel