Corona-Virus: Wie ansteckend sind unsere Kinder?

Wo sind die Zahlen des Kultusministeriums?

Zahlreiche Untersuchungen haben mittlerweile nachgewiesen, dass Kinder in Bezug auf das Corona-Virus genauso ansteckend sind wie Erwachsene. Und es ist auch nicht zu bestreiten, dass es in Schulen ein Infektionsgeschehen mit dem Corona-Virus gibt, wenn die einschlägigen Schutzmaßnahmen wie die Abstandsregelungen nicht beachtet werden. Vor diesem Hintergrund muss sich die Hessische Landesregierung den Vorwurf gefallen lassen, auf Basis von vollkommen unsachlichen Argumenten den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts nicht gefolgt zu sein.

Bewusst fahrlässiges Handeln: Die Corona-Politik des Hessischen Kultusministeriums

Für die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren und nicht übertragbaren Krankheiten ist in Deutschland das Robert Koch-Institut (RKI) zuständig. Zu den Aufgaben des RKI gehört auch die wissenschaftliche Begründung von Maßnahmen, die dem Schutz der Bevölkerung dienen. Für die Schulen hat das RKI angesichts der Corona-Pandemie klare Empfehlungen formuliert: Ab einem 7-Tage-Inzidenzwert von 50 – also dann, wenn in sieben Tagen auf 100.000 Personen 50 neu Infizierte entfallen – soll im Unterricht eine generelle Maskenpflicht gelten. Außerdem fordert das RKI die Verkleinerung der Lerngruppen, um den Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten. Letzteres kann durch Wechselunterricht erfolgen. (1)

Diesen Empfehlungen des RKI sind die Bundesländer trotz steigender Infektionszahlen und massiver Proteste der GEW sowie anderer schulpolitischer Verbände im Herbst nicht gefolgt. Die Landesregierungen hielten der Forderung nach Wechselunterricht immer wieder entgegen, dass an Schulen kein nennenswertes Infektionsgeschehen zu beobachten wäre. Deshalb, so die Behauptung, könnten Schulen auch keine Infektionstreiber für das Pandemiegeschehen sein. Das Hessische Kultusministerium bildete hier keine Ausnahme – ganz im Gegenteil: Kultusminister Alexander Lorz stellte am 10. Juni 2020 in der Landespressekonferenz sogar die Behauptung auf, Kinder wirkten im Pandemiegeschehen als „Infektionsbremse“. Würde diese absurde These stimmen, dann wären Lehrkräfte so gut wie keine andere Berufsgruppe durch ihre Tätigkeit in der Schule gegen eine Ansteckung mit dem Corona-Virus geschützt.

Hinter dem Wunsch, die Schulen so weit wie möglich offen zu halten, steckten ganz offensichtlich verschiedene und zum Teil durchaus nachvollziehbare Motive – ob hinter diesen der Infektionsschutz der Bevölkerung zurückstehen sollte, ist eine andere Frage. So würden die Bildungschancen insbesondere von sozial sowieso schon benachteiligten Kindern verschlechtert, und den Kindern fehlten die sozialen Kontakte. Verwiesen wird auch auf den schlechteren Schutz vor Misshandlungen, wenn der Schulbesuch ausgesetzt oder eingeschränkt ist. Der zentrale Grund für das Verweigern von Wechselunterricht dürfte aber ein anderer sein: Das Betreuungsproblem der Kinder sollte nicht wie im Frühjahrs-Lockdown wieder zur Belastung für die Eltern werden, die dann auch nicht im üblichen Umfang hätten arbeiten können.

Kultusministerium veröffentlicht keine aussagefähigen Zahlen

Um zu zeigen, dass kein Wechselunterricht erforderlich sei, hat das Hessische Kultusministerium immer wieder die Zahl der infizierten Kinder und Jugendlichen in Relation zur Gesamtzahl der Schülerinnen und Schülern gesetzt. Eine solche Darstellung ist aber nicht aussagekräftig. Sinnvoll sind die schon erwähnten Werte für die 7-Tage-Inzidenz, das heißt die Zahl der Neuinfektionen je 100.000 Personen innerhalb von sieben Tagen.

Da das Gesundheitsamt Frankfurt Ende November 2020 Infektionszahlen von Schülerinnen und Schülern für sechs Wochen im Oktober bzw. November publizierte hatte, konnte die GEW Hessen zumindest für Frankfurt solche 7-Tage-Inzidenzwerte für die 11- bis 17-Jährigen berechnen. Die entsprechende wöchentliche Inzidenz-Zahl lag im Durchschnitt um einen Wert von gut 100 über dem jeweiligen Inzidenzwert von Frankfurt insgesamt. Angesichts dieser Werte forderte die GEW Hessen zum wiederholten Male, dass die Landesregierung endlich den Empfehlungen des RKI folgen und Wechselunterricht verfügen solle.

Die Landesregierung reagierte mit einem verbalen Rundumschlag, der ganz offensichtlich vom eigenen Politikversagen ablenken sollte: Ministerpräsident Bouffier verstieg sich in seiner Regierungserklärung vom 8. Dezember 2020 zu der Behauptung, die GEW schüre mit unbewiesenen Behauptungen Unsicherheit und Ängste und handle unverantwortlich. Eine Gegenrechnung oder die Veröffentlichung von 7-Tage-Inzindenzwerten für die Schulen blieb die Landesregierung schuldig.

Wie ansteckend sind Kinder?

Infektionen bei Kindern – darüber besteht unter Medizinerinnen und Medizinern Konsens – verlaufen selten schwer, oft treten bei ihnen überhaupt keine Symptome auf. Deshalb werden ihre Infektionen zum Teil übersehen. Kinder werden deshalb auch seltener getestet, was ein Problem für die Beurteilung des Corona-Infektionsgeschehen bei Kindern darstellt.

Bereits im Frühjahr 2020 hatte der Berliner Virologe Christian Drosten darauf hingewiesen, dass Kinder eine ähnlich hohe Viruslast aufweisen und deshalb auch genauso ansteckend sind wie Erwachsene. In den letzten Wochen neigen offensichtlich immer mehr Fachleute zu dieser Auffassung, die durch zahlreiche Studien gestützt wird.

Eine bemerkenswerte Untersuchung zur Frage der Ansteckung von Kindern mit dem Corona-Virus, deren Ergebnisse Ende Oktober 2020 veröffentlicht wurden, wurde im Helmholtz-Zentrum München durchgeführt (2). Grundlage dieser Studie waren 12.000 zwischen Januar und Juli 2020 entnommene Blutproben von Schülerinnen und Schülern, die ursprünglich zur Früherkennung von Diabetes bei Kindern dienten. Im Vergleich zu den im Zeitraum von April bis Juli 2020 vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Ernährung gemeldeten Fällen von positiv auf das Corona-Virus getesteten Kindern (0 und 18 Jahren) fiel die Antikörperhäufigkeit in den Blutproben sechsmal (!) höher aus.

Hohe Ansteckungsraten von Kindern hat auch eine indische Studie ermittelt, der Daten von mehr als 575.000 Personen zu Grunde liegen (3). Die Ergebnisse der Studie wurden Anfang November in der Fachzeitschrift Science publiziert. Demnach sind selbst bei kleineren Kindern relativ hohe Ansteckungsraten auszumachen. Bis zu 25 Prozent der Kinder bis zum Alter von 14 Jahren sind dabei von Gleichaltrigen angesteckt worden. Auch für das so genannte „Superspreading“ – eine Person steckt eine Vielzahl von Personen an – liefert die Studie wichtige Erkenntnisse. Demnach waren acht Prozent der Corona-Ausgangsfälle für 60 Prozent der nachgelagerten Infektionen verantwortlich. Einen Superspreading-Fall musste der Hamburger Bildungssenator Ties Raabe für eine Hamburger Schule im Dezember 2020 widerwillig einräumen (4).

Eine weitere Studie zur Frage der Corona-Infektion von Kindern ist die so genannte „Gurgelstudie“ – benannt nach der Gurgellösung, die die Grundlage für die Überblicksuntersuchung zur Rolle von Schulen im Pandemiegeschehen bildet (5). Diese Untersuchung unter Leitung des Wiener Mikrobiologen Michael Wagner erhebt seit Beginn des Schuljahr 2020/21 die Häufigkeit aktiver Corona-Infektionen von Schülern und Schülern (bis 14 Jahren) und Lehrkräften an Volksschulen, Mittelschulen und Unterstufen der Allgemeinbildenden Höheren Schulen in ganz Österreich. Nach den bisher vorliegenden Ergebnissen unterscheidet sich das Infektionsgeschehen in den 

Schulen quantitativ nur wenig vom Infektionsgeschehen außerhalb der Schulen.

Für Aufsehen gesorgt haben auch neue Befunde aus England (6). Zwar habe sich, so die Erkenntnis, der Lockdown als eine wirksame Maßnahme erwiesen, um die Infektionszahlen zu verringern. Allerdings wurde ebenfalls ermittelt, dass die Infektionszahlen von Kindern und Jugendlichen im Schulalter über dem Durchschnitt der Bevölkerung lagen.

Aufschlussreich ist auch eine am Karlsruher Institut für Technologie erstellte Untersuchung, die ermittelte, welche Maßnahme in welchem Zeitraum die Ausbreitung der Epidemie gebremst hat (7). Nach den Ergebnissen, für die die entsprechenden Maßnahmen in neun europäische Ländern und 28 Bundesstaaten der USA die Grundlage bildeten, waren Schulschließungen die mit Abstand wichtigste. Auch dies ist ein mehr als deutlicher Hinweis darauf, dass das Pandemiegeschehen vor den Schultüren nicht Halt macht.

Wechselmodell kommt – besser spät als nie …

Am 22. Januar 2021 hat Kultusminister Lorz bekannt gegeben, dass in Hessen die Klassen 1 bis 6 ab dem 14. Februar im Wechselmodell unterrichtet werden sollen. Im März ist die Rückkehr dieser Klassenstufen in den „eingeschränkten Regelunterricht“ vorgesehen. Für die Schülerinnen und Schüler ab Klasse 7, die derzeit auf Distanz unterrichtet werden, ist Wechselunterricht für den März angekündigt. Diese Maßnahmen sind grundsätzlich zu begrüßen – allerdings sollte der Umstieg auf das Wechselmodell an den Grundschulen in Verbindung mit der erforderlichen Notbetreuung bis zu den Osterferien andauern.

Auch wenn die hessische Landesregierung ihr Fehlverhalten nun korrigiert, bleibt der Tatbestand eines massiven Politikversagens in der zweiten Corona-Welle bestehen. Außerdem muss sich Schwarz-Grün in Hessen den Vorwurf gefallen lassen, auf Basis von vollkommen unsachlichen Argumenten den Empfehlungen des RKI nicht gefolgt zu sein – was als bewusste Verletzung der Sorgfaltspflicht zu bewerten sein dürfte.

Birgit Koch und Kai Eicker-Wolf


Quellen 

(1) Robert Koch-Institut: Präventionsmaßnahmen in Schulen während der COVID-19-Pandemie Empfehlungen des Robert Koch-Instituts für Schulen vom 12.10.2020, als Download unter
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Praevention-Schulen.pdf?

(2) Mehr Infektionen als bekannt: Neue Studie zeigt Relevanz bevölkerungsweiter SARS-CoV-2-Antikörpertests auf, Pressemeldung des Helmholtz Zentrum München vom 29.10.2020
https://www.helmholtz-muenchen.de/aktuelles/uebersicht/pressemitteilungnews/article/48939/index.html

(3) Corona: Erhöhte Übertragung unter Kindern? Indische Studie beobachtet besonders hohe Ansteckungsraten unter gleichaltrigen Kindern, in: ScienceXX. Das Wissenschaftsmagazin
https://www.scinexx.de/news/medizin/corona-erhoehte-uebertragung-unter-kindern/

(4) Rabe wegen Superspreader-Studie unter Druck: Hat der Bildungssenator die Corona-Gefahr in Schulen bewusst vertuscht?, news4teachers. Das Bildungsmagazin
https://www.news4teachers.de/2020/12/rabe-wegen-superspreader-studie-unter-druck-hat-der-bildungssenator-die-corona-gefahr-in-schulen-bewusst-vertuscht/

(5) Gurgelstudie, 2. Teil. Brennpunktschulen sind eher Corona-Hotspots als andere Schulen, in: DER STANDARD vom 6. Januar 2021
https://www.derstandard.de/story/2000122960810/brennpunktschulen-sind-eher-corona-hotspots-als-andere-schulen

(6) Marie Illner, COVID-19-Studie aus England: Kinder als Überträger des Coronavirus unterschätzt?, web.de
https://web.de/magazine/news/coronavirus/covid-19-studie-england-kinder-uebertraeger-coronavirus-unterschaetzt-35364412

(7) Signifikanter Effekt von Schulschließungen, Pressemitteilung 114/2020 des Karlsruher Instituts für Technologie vom 10.12.2020 https://www.kit.edu/kit/pi_2020_114_signifikanter-effekt-von-schulschliessungen.php