„Mehr als ein Affront“

Die Zukunft der Ausländerbeiräte: Im Gespräch mit Enis Gülegen

Vorabveröffentlichung aus: HLZ 3/2020

Wie berichtet haben die Landesvorsitzenden der GEW in einem offenen Brief an die Fraktionen von CDU und Grünen die ablehnende Haltung der GEW zum Gesetzentwurf zur „Verbesserung der politischen Beteiligung hier lebender Ausländerinnen und Ausländer“ begründet. Die GEW Hessen teilt die Kritik der Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Hessen (agah) an den Plänen der Landesregierung, kommunale Ausländerbeiräte mittels eines sogenannten „Optionsmodells“ durch Integrationskommissionen zu ersetzen. Alle Gemeinden mit mehr als 1.000 ausländischen Einwohnerinnen und Einwohnern, für die bisher eine gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung eines Ausländerbeirats bestand, sollen nach dem Willen der Landesregierung die Möglichkeit haben, auch bestehende Ausländerbeiräte durch eine Integrationskommission zu ersetzen. HLZ-Redakteur Harald Freiling sprach mit Enis Gülegen über die Reaktionen auf den Gesetzentwurf und die Positionen der agah. Enis Gülegen ist ehrenamtlicher Vorsitzender der agah und arbeitet im Hauptberuf als Lehrer vor allem in Intensivklassen. Für die GEW ist er Mitglied im Gesamtpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer in Frankfurt.

HLZ: Die agah kann ja nun auch nicht die Augen davor schließen, dass die Wahlbeteiligung zu den Ausländerbeiräten sehr gering ist und dass in vielen Kommunen, die einen Ausländerbeirat bilden könnten, überhaupt keine Wahlvorschläge eingehen. Bei den letzten Wahlen 2015 lag die Wahlbeteiligung zum Beispiel in Frankfurt bei 6,2 Prozent, in Kassel bei 6,4, in Gießen bei 6,6 und in Offenbach zum Beispiel nur bei 2,1 Prozent.

Enis Gülegen: Das ist in der Tat ein gravierendes Problem. Aber niemand käme auf die Idee, angesichts sinkender Wahlbeteiligung die Direktwahl der Oberbürgermeister oder Landräte abzuschaffen. Man sollte sich für die genannten Städte auch einmal anschauen, wie viele Menschen bereit sind, sich in den Ausländerbeiräten politisch zu engagieren. In den von dir genannten Städten gab es beispielsweise in Frankfurt über 500 Kandidatinnen und Kandidaten. Das ist doch ein gewaltiges Pfund für bürgerschaftliches Engagement. Es gibt derzeit 89 Ausländerbeiräte in Hessen, nur in 50 Gemeinden mit mehr als 1.000 Ausländern gibt es keinen Ausländerbeirat. Aber wir sollten uns die Zahlen nicht schönreden. Deshalb hat die agah schon 2014 ein umfangreiches Konzept zur Weiterentwicklung der Ausländerbeiräte vorgelegt, um deren Rechte zu erweitern und sie so zu wirksamen Interessenvertretungen zu machen.

Euren Vorschlag, dass Ausländerbeiräte zeitgleich mit den Kommunalwahlen gewählt werden, hat die schwarz-grüne Koalition aufgegriffen.

Das unterstützen wir auch ausdrücklich. Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass viele Migrantinnen und Migranten kein Wahlrecht haben, auch kein kommunales Wahlrecht. Da bringt auch die zeitgleiche Durchführung der Wahlen nichts…

… doch das kommunale Wahlrecht für Bürgerinnen und Bürger, die nicht aus einem EU-Land kommen, könnte nur durch eine Änderung des Grundgesetzes herbeigeführt werden. Das könnt ihr schlechterdings nicht der Landesregierung anlasten…

Das tun wir auch nicht. Allerdings würden wir uns im Kontext eines Gesetzes, das ausdrücklich zu einer „Verbesserung der politischen Beteiligung hier lebender Ausländerinnen und Ausländer“ beitragen soll, doch klare Initiativen der Landesregierung wünschen, zum Beispiel vom grünen Integrationsminister Kai Klose.

Ihr kritisiert in euren Stellungnahmen, dass der Gesetzentwurf „im Hauruck-Verfahren“ durch den Landtag gebracht werden soll, ohne dass die Ausländerbeiräte und die agah im Vorfeld überhaupt nur angehört wurden. Die Vertreterinnen und Vertreter von Grünen und CDU haben das bei der ersten Lesung im Landtag heftig bestritten.

Unsere Empfehlungen von 2014 haben wir bei jedem Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern der Landesregierung und der Koalitionsfraktionen mantramäßig auf den Tisch gelegt. Eine Reaktion haben wir nie bekommen. Der Inhalt des Gesetzentwurfs wurde uns Ende November mündlich vorgetragen, zu diesem „Beteiligungsgespräch“ war vier Tage vorher eingeladen worden. Eine schriftliche Zusammenfassung der Inhalte des Gesetzentwurfs bekamen wir zwei Tage vor der Plenarsitzung der agah am 30.11. 2019. Wir könnten ja bei der Sitzung eine „Lesepause“ einlegen…

Kern des Gesetzentwurfs ist das Optionsmodell. Danach kann die Gemeindevertretung entscheiden, ob sie einen Ausländerbeirat oder eine Integrationskommission einrichtet. Daraus macht ihr die Überschrift, die Ausländerbeiräte sollten „de facto abgeschafft werden“. Ist das nicht zu viel Misstrauen?

Nein! Der Städtetag hat die Optionsregelung „statt der Wahlen mit hohem und kostenintensivem Verwaltungsaufwand“ umgehend begrüßt und selbst die rudimentären Rechte der Integrationskommission gehen ihm „entschieden zu weit“. Über andere politische Mehrheiten will ich lieber nicht nachdenken. Selbst wenn jetzt alle ihre Wertschätzung für die Ausländerbeiräte ausdrücken, dürfen wir uns nichts vormachen: Das Optionsrecht liegt nicht bei den Migrantinnen und Migranten, sondern bei der Gemeindevertretung. In Gefahr sind gerade die Ausländerbeiräte, die engagiert und damit oft auch unbequem sind. Und selbst wenn jetzt „niemand die Absicht, hat, einen Ausländerbeirat abzuschaffen“, wird diese Option als Damoklesschwert ihre Wirkung nicht verfehlen.

Warum haltet ihr die Verpflichtung, überall dort, wo kein Ausländerbeirat zustande kommt, eine Integrationskommission einzurichten, für falsch?

Gegen eine solche Regelung hätten wir nichts. Es geht um die Option, ihn auch dort, wo er zustande kommt und funktioniert, durch eine Kommission zu ersetzen. Eine solche Kommission ist nach § 72 der Hessischen Gemeindeordnung ein Organ der Gemeindevertretung aus Mitgliedern des Kommunalparlaments, die „falls dies tunlich erscheint“, durch „sachkundige Einwohner“ ergänzt werden kann (siehe Kasten). Mit einer Interessenvertretung der Migrantinnen und Migranten hat das nichts zu tun. Nach dem Gesetzentwurf soll die Kommission zur Hälfte aus „sachkundigen ausländischen Bürgerinnen und Bürger“ bestehen. Ansonsten reicht offensichtlich auch die Benennung von sozial engagierten Bio-Deutschen, die sich dann um unsere Integration kümmern. Der Gesetzentwurf spricht in der Überschrift ausdrücklich von der Verbesserung der „politischen Beteiligung“. Die politische Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern erfolgt in einer repräsentativen Demokratie durch gewählte, demokratisch legitimierte Gremien und nicht durch Kommissionen, deren Mitglieder durch andere Gremien beauftragt werden.

Ist dann nicht auch der Begriff „Ausländerbeirat“ irreführend?

Das stimmt, wir setzen uns schon lang dafür ein, dass dieser Begriff ersetzt wird. In unserem Konzept von 2014 schlagen wir den Begriff „Migrantenparlament“ vor. Damit greifen wir die Idee der „Jugendparlamente“ auf, die ebenfalls einer Gruppe eine Stimme verleihen sollen, die kein Wahlrecht hat.

Wie geht es jetzt weiter?

Wir halten als agah weiter dagegen und freuen uns über jede Unterstützung…

… wie ihr sie beispielsweise vom DGB und von der GEW bekommen habt…

… ja, das freut uns. Wir führen in diesen Wochen mehrere Regionalkonferenzen durch, zu denen wir die Vertreterinnen und Vertreter in den kommunalen Parlamenten und aus der Landespolitik einladen. Und da gibt es auch ermutigende Signale. Damit meine ich nicht nur die Beschlüsse vieler Ausländerbeiräte, sondern auch die Gegenstimmen von der grünen Basis. So attestiert beispielsweise die grüne Fraktion in der Marburger Stadtverordnetenversammlung ihrer Landtagsfraktion, dass sie offensichtlich nur wenig über „die Bedeutung und Funktion der bestehenden Ausländerbeiräte“ weiß.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für eure Arbeit.­


Ausländerbeirat (§ 88 HGO)

(1) Der Ausländerbeirat vertritt die Interessen der ausländischen Einwohner der Gemeinde. Er berät die Organe der Gemeinde in allen Angelegenheiten, die ausländische Einwohner betreffen.

(2) Der Gemeindevorstand hat den Ausländerbeirat rechtzeitig über alle Angelegenheiten zu unterrichten, deren Kenntnis zur Erledigung seiner Aufgaben erforderlich ist. Der Ausländerbeirat hat ein Vorschlagsrecht in allen Angelegenheiten, die ausländische Einwohner betreffen. Der Ausländerbeirat ist in allen wichtigen Angelegenheiten, die ausländische Einwohner betreffen, zu hören. (…)

(3) Dem Ausländerbeirat sind die zur Erledigung seiner Aufgaben erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen.

Kommissionen (§ 72 HGO)

(1) Der Gemeindevorstand kann zur dauernden Verwaltung oder Beaufsichtigung einzelner Geschäftsbereiche sowie zur Erledigung vorübergehender Aufträge Kommissionen bilden, die ihm unterstehen.

(2) Die Kommissionen bestehen aus dem Bürgermeister, weiteren Mitgliedern des Gemeindevorstands, Mitgliedern der Gemeindevertretung und, falls dies tunlich erscheint, aus sachkundigen Einwohnern. Die weiteren Mitglieder des Gemeindevorstands werden vom Gemeindevorstand, die Mitglieder der Gemeindevertretung und die sachkundigen Einwohner werden von der Gemeindevertretung gewählt, die sachkundigen Einwohner auf Vorschlag der am Geschäftsbereich der Kommission besonders interessierten Berufs- und anderen Vereinigungen oder sonstigen Einrichtungen. (…)

(3) Den Vorsitz in den Kommissionen führt der Bürgermeister oder ein von ihm bestimmter Beigeordneter.

Integrationskommission

(§ 89 neu, Gesetzentwurf)

Der Gesetzentwurf sieht in einem neuen Paragrafen 89 die Einrichtung von Integrationskommissionen vor:

Die Integrations-Kommission ist eine zur dauernden Verwaltung und Beaufsichtigung eines einzelnen Geschäftsbereichs eingesetzte Kommission im Sinne des § 72. Sie besteht mindestens zur Hälfte aus sachkundigen Einwohnern, die von der Gemeindevertretung auf Vorschlag der Interessenvertretungen der Migranten gewählt werden. Für den Fall, dass Wahlvorschläge nicht in ausreichender Zahl abgegeben werden, soll die Gemeindevertretung Vorschläge machen. (…) Die Hälfte der Gewählten soll weiblichen Geschlechts sein. Außerdem soll bei der Wahl nach Möglichkeit die Pluralität der ausländischen Einwohner im Sinne von § 84 Satz 1 berücksichtigt werden.

(2) Den Vorsitz der Integrations-Kommission führt der Bürgermeister gemeinsam mit einem von der Personengruppe der sachkundigen Einwohner gewählten Co-Vorsitzenden.

(3) Die Integrations-Kommission berät die Organe der Gemeinde in allen Angelegenheiten, die ausländische Einwohner betreffen. § 88 Abs. 2 gilt entsprechend.

(4) Die Kommission tritt mindestens viermal im Jahr zusammen und berichtet dem Gemeindevorstand und der Gemeindevertretung einmal im Jahr über den Stand der Integration der ausländischen Einwohner.