So kann man im Unterricht Abstand halten

Das Wechselmodell für den Unterricht

Mit dem drastischen Anstieg der Zahl der Neuinfektionen seit Mitte Oktober hat die Debatte über die Rolle der Schulen bei der Ausbreitung des Coronavirus deutlich an Fahrt aufgenommen. Dabei thematisiert die GEW Hessen schon seit Beginn der Pandemie den Widerspruch, dass für alle Bereiche des öffentlichen Lebens das Abstandhalten als oberste Prämisse zur Eindämmung der Infektionszahlen gefordert wird, dies aber seit der Wiederaufnahme des Regelunterrichts an den Grundschulen am 22.6.2020 an allen Schulen trotz voller Klassen nicht gelten soll. Beschwichtigungen, dass die Schulen keine Treiber des Infektionsgeschehens seien, wurden vielfältig widerlegt. An den Gefahren für Schülerinnen und Schüler und ihre Familien und für das pädagogische Personal besteht kein Zweifel mehr.

Die GEW Hessen hat deshalb ihre Forderung verstärkt, dass die AHA-L-Regeln auch in der Schule Gültigkeit haben müssen. Damit der Abstand auch im Unterricht eingehalten werden kann, müssen alle Lerngruppen geteilt werden, in denen dies ansonsten nicht möglich ist. Dies ist zwangsläufig mit Einschränkungen beim Präsenzunterricht verbunden, denn die Arbeitsleistung der Lehrkräfte lässt sich nicht verdoppeln und Ersatzkräfte stehen kaum zur Verfügung. Die GEW Hessen plädiert deshalb gemeinsam mit dem Landeselternbeirat und der Landesschülerinnen und -schülervertretung für einen Wechsel von Präsenzunterricht in verkleinerten Lerngruppen und Distanzunterricht zu Hause. Wie das gehen soll, erläutert die GEW-Landesvorsitzende Maike Wiedwald auf der Grundlage konkreter Erfahrungsberichte aus hessischen Schulen.

Das Hessische Kultusministerium (HKM) hält an seiner Sichtweise fest, dass der Übergang in die nächste Stufe seines Stufenplans, der keine Bindung an bestimmte Inzidenzwerte enthält, nur vom Ministerium angeordnet werden kann. Der Übergang der hessischen Schulen in den „eingeschränkten Regelbetrieb“ (Stufe 2) ist Bestandteil eines Erlasses vom 30.10.2020:

  • Eine Mund-Nase-Bedeckung (MNB) ist ab Klasse 5 auch im Unterricht zu tragen.
  • Für die Jahrgangsstufen 1 bis 6 soll die Einrichtung konstanter Lerngruppen erfolgen.
  • Um eine Durchmischung von Gruppen zu vermeiden, wird in allen Schulformen das schulische Angebot angepasst (z. B. Wegfall von Arbeitsgemeinschaften, Anpassung des Ganztagsangebots mit dem Ziel feststehender Gruppen).

In mehreren Städten und Landkreisen wurden bereits Ende Oktober 7-Tage-Inzidenzien von 200 überschritten, so dass die Gesundheitsämter dringend zusätzliche Maßnahmen forderten, wie sie in der Stufe 3 vorgesehen sind. Im Rahmen ihrer Zuständigkeiten ordneten die Gesundheitsämter deshalb insbesondere für die weiterführenden Schulen an, dass im Unterricht der Mindestabstand von 1,50 Metern einzuhalten ist. Damit waren die Schulen verpflichtet, auch gegen den Willen oder ohne eine spezifische Anordnung des HKM den Unterricht im Wechsel von Präsenz- und Distanzlernen aufzunehmen. Entsprechende Regelungen gab es bis Ende November unter anderem in den Landkreisen Gießen, Limburg-Weilburg, Lahn-Dill, Bergstraße, Odenwald, Main-Kinzig, Groß-Gerau und in Offenbach.

Viele Schulen hatten sich in den letzten Monaten – anders als das HKM – intensiv auf den Wechselunterricht vorbereitet, so beispielsweise die Kopernikusschule in Freigericht: Ein Antrag der Schule an Gesundheitsamt und Staatliches Schulamt für den Main-Kinzig-Kreis Ende Oktober wurde zunächst nicht positiv beschieden. Erst eine Allgemeinverfügung des Main-Kinzig-Kreises machte den Weg frei – mit großer Zustimmung. „Bei uns sind alle Klassen und Tutorien in A- und B-Gruppen unterteilt, die täglich abwechselnd die Schule besuchen, in einem Rhythmus über zwei Wochen. Bisher sind alle sehr zufrieden, weil das Schulleben im Großsystem mit 2.500 Schülerinnen und Schülern deutlich entspannter ist, ebenso die Schulbussituation“, so die Zwischenbilanz von Schulleiter Ulrich Mayer. Eine sehr ähnliche Rückmeldung gibt auch Nathalie Thoumas, Lehrerin an der Martin-Buber-Schule Groß-Gerau und aktive Personalrätin: „Die Martin-Buber-Schule arbeitet seit dem 9. November im Wechselmodell. Selbst das Lüften ist einfacher geworden. Da keine Schülerin und kein Schüler mehr direkt am Fenster sitzen, ist es möglich, alle 20 Minuten durchzulüften. Das ging vorher nicht, ohne dass die ganze Klasse aufstehen und den Klassenraum verlassen musste, weil der Platz nicht ausreicht, um die Fenster zu öffnen ohne jemanden zu verletzen. In der ganzen Schule hat sich die Atmosphäre etwas entspannt, das Gedränge vor der Toilette in den Pausen ist weniger geworden. Man fühlt sich sicherer.

Auch wenn die Stadt Frankfurt bisher mit einer ähnlichen Regelung zögert – an Frankfurter Schulen wird ebenso überlegt, wie mit der aktuellen Lage umzugehen ist. Eine der Schulen ist die IGS Kalbach-Riedberg in Frankfurt, an der der Impuls für den Wechsel zu einem Hybridmodell aus dem Kollegium kam, wie die stellvertretende Schulleiterin Mareike Klauenflügel berichtet: „Der Impuls für unseren Diskussionsprozess kam aus unserem Krisenteam, bestehend aus der Schulleitung, der Stellvertretung, dem Personalrat und unseren Teamkoordinator*innen. Im Folgenden haben wir den Entwurf auf der Gesamtkonferenz, im Schulelternbeirat vorgestellt und Anregungen eingearbeitet. Die Kinder können ihre Ideen im Morgenkreis einbringen und wir tauschen uns mit allen anderen Gruppen der Schulgemeinde aus.“

Unterrichtsorganisation in A- und B-Wochen

Die Schulen im Wechselmodell organisieren den Unterrichtsalltag sehr unterschiedlich. Sehr viele Schulen greifen auf das Modell der A- und B-Gruppen zurück, wobei die Teilgruppen im täglichen oder wöchentlichen Wechsel unterrichtet werden.

Die IGS Kalbach-Riedberg überlegt zum täglichen Wechsel der Gruppen überzugehen, für den sich auch die Kopernikusschule in Freigericht entschieden hat. Noch einmal Mareike Klauenflügel:

Uns ist wichtig, die Schülerinnen und Schüler regelmäßig zu sehen, um Fragestellungen zu besprechen und vor allem aber auch um regelmäßig Möglichkeiten des gemeinsamen sozialen Lernens in der Schule zu ermöglichen. Wir wollen für die Schülerinnen und Schüler auch persönlich ansprechbar bleiben.“ Auch an der IGS Martin-Buber-Schule Groß-Gerau wird auf den täglichen Wechsel gesetzt. Nathalie Thoumas berichtet: „Der Vorteil im Vergleich zum wöchentlichen Wechseln liegt darin, dass die Schülerinnen und Schüler jeden zweiten Tag in der Schule sind und die sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen und Lehrkräften regelmäßiger stattfinden. Mit dem wöchentlichen Wechseln hatten wir weniger gute Erfahrungen vor den Sommerferien gemacht, weil die Zeiträume ohne Unterrichtstage in der Schule zu groß waren.“

An der Friedrich-Magnus-Gesamtschule in Laubach findet seit Anfang November ab der Jahrgangsstufe 7 ein wöchentlicher Wechsel statt (A- und B- Wochen). Die Klassengruppen sitzen auf Abstand. „Wenn eine Klasse weniger als 16 Schülerinnen und Schüler hat und der Mindestabstand im Klassenraum eingehalten werden kann, wird die Klasse nicht geteilt“, berichtet der stellvertretende Schulleiter Boris Henrich.

An allen Schulen, die bereits im Wechselmodell arbeiten, erhalten die Schülerinnen und Schüler im Präsenzunterricht Aufgaben und Arbeitsaufträge für die Tage oder die Woche, in der sie nicht im Unterricht sind. Anders als im Lockdown können diese Aufgaben im Präsenzunterricht erläutert und nachbereitet werden. Lassen es die technischen Möglichkeiten zu, werden Videokonferenzen über das Schulportal Hessen oder iServ durchgeführt. An einzelnen Schulen werden Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe über Videokonferenzen direkt in den Unterricht zugeschaltet, können Fragen stellen und Beiträge für den Unterricht mündlich äußern. Eine Übertragung des Unterrichts, bei der die Kamera ausschließlich auf die Lehrkraft gerichtet ist, würde den Unterricht auf eine Vorlesung reduzieren. Nach Erkenntnissen der GEW Hessen verfügen zudem nur ganz wenige Schulen über eine entsprechende technische Ausstattung. Für die GEW steht fest, dass für eine solche Übertragung die Zustimmung aller Beteiligten, also auch der Lehrkraft vorliegen muss.

Mareike Klauenflügel hält eine solche Zuschaltung für wünschenswert, damit auch die Schülerinnen und Schüler, die an diesem Tag von zuhause arbeiten, einen festen Rhythmus haben:

„Die Schule könnte bei uns jeden Tag um 10 Uhr mit dem Morgenkreis beginnen. Die Kinder, die an diesem Tag zuhause lernen, können sich dann dazu schalten, so dass auch ihr Lerntag zuhause spätestens um 10 Uhr beginnt. Wir hoffen sehr, dass es jetzt sehr schnell genügend Webcams und Computer gibt, die auch in den Schulen für diese unterrichtliche Tätigkeiten von der Stadt freigeschaltet werden. Unsere individualisierte Lerngelegenheiten möchten wir ins Distanzlernen nach Hause verlegen und die Schülerinnen und Schüler dabei digital betreuen sowie persönlich betreuen können – je nach Bedarf. Als Lehrkräfte möchten wir zu festen Zeiten erreichbar sein.“

Die Kopernikusschule in Freigericht ist eine Kooperative Gesamtschule mit Oberstufe. Schulleiter Ulrich Mayer berichtet, wie die Schule die Sorgen der Eltern bei der Umsetzung des Wechselmodells aufgreift und damit Infektionsschutz und Leistungsbewertung gleichermaßen berücksichtigt:

In der Mittelstufe der drei Zweige unserer kooperativen Gesamtschule werden die schriftlichen Arbeiten in A- und B-Versionen aufgeteilt und jeweils dann geschrieben, wenn die Gruppen in der Schule im Präsenzunterricht sind. Schriftliche Leistungsnachweise in den 2-Stunden-Fächern wie Biologie, Kunst oder Geschichte sollen möglichst nicht in Klausurform erbracht werden.“ Auch in der Friedrich-Magnus-Gesamtschule in Laubach werden die Arbeiten jeweils in A- und B-Versionen geschrieben.

Benachteiligung von schwachen Schülerinnen und Schülern durch Wechselunterricht?

Trotz des großen Engagements der Lehrkräfte zeigen die Erfahrungen der letzten Monate, dass schwache Schülerinnen und Schüler und solche mit besonderem Förderbedarf bei Veränderungen in der Unterrichtsorganisation – besonders beim Wechsel von der Präsenzform auf digitale oder andere Darstellungsformen – oft überfordert werden. Damit kein Kind zurück bleibt, müssen in Abhängigkeit von der dynamischen Entwicklung der Pandemie individuelle Lösungen gefunden werden. Solche Möglichkeiten scheitern jedoch sehr häufig am fehlenden Personal und den fehlenden Räumlichkeiten in den Schulen. Boris Henrich berichtet,dass„in den kleineren Lerngruppen viel besser auf die individuellen Lernbedürfnisse einzelner eingegangen werden kann. Es kommt zu deutlich mehr Wortmeldungen bei ruhigeren Schülerinnen und Schülern. Und der Unterrichtsstoff kann in Kleingruppen besser und zum Teil schneller vermittelt werden. Und auch für die Martin-Buber-Schule bestätigt Nathalie Thoumas diese Einschätzung: „Uns sagen die Schülerinnen und Schüler, die im Wechselmodell arbeiten, dass sie sich in den kleineren Lerngruppen besser konzentrieren können; man lernt besser und mehr, auch zu Hause, auf einmal macht lernen Spaß.“

Diese Aussagen zeigen, wo das Kultusministerium aktiv werden müsste und wie die Bedingungen an den Schulen deutlich verbessert werden müssten. Dies betrifft das Personal, die Räume und vor allem die digitale Ausstattung. Stattdessen wird die Durchführung des Präsenzunterrichts zum Dogma und die Förderung gerade von leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern als Begründung hierfür herangezogen. Ein Festhalten am Präsenzunterricht ist aber per se kein Beitrag zur Förderung leistungsschwächerer Kinder. In vielen Klassen wird Unterricht unter den gegenwärtigen Bedingungen als Frontalunterricht durchgeführt. Die Unterstützung durch zusätzliche Pädagoginnen und Pädagogen bricht in vielen Fällen weg, eine individuelle Förderung ist kaum noch möglich. Nathalie Thoumas weist aber auch auf Probleme bei der Umsetzung insbesondere bei der und Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf und lernzieldifferenzierter Beschulung hin. Das Staatliche Schulamt habe, so Thoumas, deutlich gemacht, dass diese Schülerinnen und Schüler nicht in kleineren Gruppen zusammengefasst werden dürfen. Die Konsequenz sei aber, dass sie täglich zur Schule kommen und am Unterricht der Gruppe A und B teilnehmen. „Die betroffenen Schülerinnen und Schüler nehmen somit aber immer zweimal am gleichen Unterricht teil und empfinden dies als Stigmatisierung. Eine Idee wäre hier, sie in die A und B Gruppen zuzuordnen und beim Lernen auf Distanz einzeln zu fördern. Dies müsste dann über das BFZ organisiert werden. Der Gesamtpersonalrat in Groß-Gerau ist über sinnvolle und gute Regelungen für alle gerade im Gespräch mit dem Schulamt.“

Boris Henrich betont im Gespräch, dass Lehrkräfte und Schulleitung trotz der deutlichen Mehrarbeit für das Wechselmodell votieren: „Sie erleben positiv, dass der Unterricht und die Pausen ruhiger und Ängste vor einer Ansteckung bei allen geringer sind.“

Deutlich gestiegene Arbeitsbelastung von Lehrkräften

Im März 2020 waren 90 Prozent der im Rahmen der „Arbeitszeit- und Arbeitsbelastungsstudie Frankfurter Lehrkräfte 2020“ befragten Lehrerinnen und Lehrer „in hohem Maß“ oder „in sehr hohem Maß“ davon überzeugt, dass sie mit ihrer Arbeit einen „wichtigen Beitrag für die Gesellschaft“ und für ihre jeweilige Schule leisten. 95 Prozent können sich mit ihrer Arbeit in „hohem“ oder „sehr hohem“ Maß identifizieren. Und genau mit diesem Engagement haben sich die hessischen Lehrkräfte in den Zeiten während und nach dem ersten Lockdown in die Vorbereitung des Unterrichts unter sehr schwierigen Bedingungen eingebracht. Die Mehrarbeit, die schon vor der Corona-Pandemie sehr hoch war, ist noch weiter gestiegen. Bei gleichbleibender Personaldecke bedeutet das Wechselmodell in der Regel weitere zusätzliche Mehrarbeit für die Lehrkräfte. Zur gleichbleibenden Unterrichtsverpflichtung hinzu kommen dann die notwendigen unterrichtlichen Begleitungen der Schülerinnen und Schüler, die jeweils nicht im Präsenzunterricht sind. Hier muss es deutliche Veränderungen bei der Arbeitsbelastung der Lehrkräfte geben.

Die GEW fordert seit dem ersten Lockdown, dass die Arbeit im Distanzunterricht in vollem Umfang auf die Pflichtstundenzahl angerechnet wird. Davon sind wir noch weit entfernt. Aber immerhin hat das HKM jetzt anerkannt, dass es diese Mehrarbeit wirklich gibt. Das ist – auch wenn es zunächst nur um die Bezahlung und nicht um die Anrechnung von Mehrarbeit geht – ein erster wichtiger Schritt. Es muss aber auch eine curriculare Diskussion darüber geben, was in dieser Situation elementar für den Unterricht ist und deshalb unbedingt bearbeitet werden muss. Unter den derzeitigen Bedingungen lassen sich nicht alle Inhalte so umsetzen, als hätten wir keine Corona-Pandemie. 

Nicht abgedeckt sind außerdem alle weiteren Tätigkeiten von Lehrkräften. Wir haben verschiedene Lehrerinnen und Lehrer um Angaben gebeten, welche zusätzlichen Aufgaben sie durch den Distanzunterricht wahrnehmen müssen. Herausgekommen ist eine lange Liste, die von der didaktischen und digitalen Aufbereitung der Unterrichtsvorbereitung über die Erstellung zusätzlicher Arbeitsblätter und der Anfertigung von Erklärvideos bis zur Korrektur der schriftlichen Arbeitsaufträge und zu den schriftlichen Rückmeldungen an die Schülerinnen und Schüler reicht. Vieles wäre normalerweise im Unterricht mündlich besprochen worden. Aber auch viele Gespräche zur Aufrechterhaltung der Kommunikation sind hinzugekommen, die zunehmend auch psychisch belastend sind. Letztlich muss es darum gehen, Unterricht im digitalen Bereich als Unterrichtsstunde zu werten und als Pflichtstunde zu akzeptieren – quasi als Bestandteil des Stundenplans.

Maike Wiedwald

Hier geht es zu den Praxisberichten.