Solidarität mit den türkischen Kolleg_innen

Ehemalige Generalsekretärin der türkischen Bildungsgewerkschaft zu Gast in Kassel

Am 1.2. luden die Kreisverbände Kassel-Stadt und Kassel-Land der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die DGB-Region Nordhessen und die Föderation demokratischer Arbeitervereine e.V. (DIDF) zu einer Informations- und Diskussionsveranstaltung mit Sakine Esen Yılmaz, der ehemaligen Generalsekretärin der türkischen Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen. Über 100 Gäste fanden sich am Mittwoch-Abend im großen Saal des Philipp-Scheidemann-Hauses ein.

Nach dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 veranlasste die türkische Regierung Tausende von Verhaftungen, die massive Einschränkung der Pressefreiheit sowie Massenentlassungen aus dem öffentlichen Dienst. Amnesty International spricht von Folter in türkischen Gefängnissen. Von der staatlichen Repression sind Tausende Lehrkräfte sowie Wissenschaftler_innen betroffen. Unterstützt wurde die Veranstaltung vom Forum Gewerkschaften Kassel, GEW Bezirk Nordhessen, AStA Kassel, Kasseler Friedensforum, ver.di Landesfachbereich Medien Hessen, Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union.

Nach der Begrüßung durch die Vorsitzende der GEW Hessen Birgit Koch und eine musikalische Einstimmung durch Bernd und Birgit Landsiedel, begrüßte Michael Rudolph, Regionsgeschäftsführer des DGB Nordhessen, die anwesenden Gäste. Er sprach dazu, warum gerade Gewerkschaften sich mit Geschehnissen wie dem Putschversuch in der Türkei und deren Auswirkungen beschäftigen und Veranstaltungen wie diese dazu organisierten. „Gewerkschaften brauchen Demokratie wie Luft zum Atmen.“ hielt Rudolph fest. „Was macht es mit Menschen, was macht es mit einem Land, was macht es mit einer Demokratie, wenn man sich nicht mehr frei organisieren darf, darüber kann Sakine berichten.“.

Hasan Aslan von der Föderation demokratischer Arbeitervereine e.V. (DIDF) berichtet von ihrer Entstehungszeit während der Gastarbeiterzeit in der Bundesrepublik. Ihre Aufgabe damals und heute ist es, eine Brücke zur Mehrheitsgesellschaft zu schaffen aber auch, die Demokratiebewegung in der Türkei zu unterstützen. Dabei stellt sich auch immer wieder die Frage danach, wie das Zusammenleben in Deutschland durch die Geschehnisse in der Türkei beeinflusst wird.

Birgit Koch von der GEW Hessen setzt den folgenden Vortrag von Sakine Esen Yilmaz in einen historischen Kontext und berichtet davon, wie schon in den 1980er Jahren nach dem damaligen Militärputsch aktive Gewerkschafter_innen nach Deutschland flohen. Die GEW hat zur Unterstützung den Heinrich-Rodenstein-Fonds gegründet, mit dem u.a. verfolgte und inhaftierte Gewerkschafter_innen und deren Familien unterstützt werden. Sakine Esen Yılmaz ist eine der Kolleg_innen, die in der Türkei wegen ihres gewerkschaftlichen Engagements vor der Inhaftierung floh. Koch bekräftigte, dass die GEW auch weiterhin Kolleg_innen unterstützen werde.

Sakine Esen Yilmaz hat zehn Jahre an öffentlichen Schulen in Adiyaman im Südosten und in Izmir an der Westküste der Türkei unterrichtet. Von 2014 bis zu ihrer Flucht nach Deutschland war sie Generalsekretärin von Eğitim Sen, die etwa 120.000 Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen der Türkei vertritt. Wegen ihres gewerkschaftlichen Engagements für Frauenrechte, gegen die Islamisierung des Schulsystems und für das Recht auf muttersprachlichen Unterricht auch für kurdische Kinder und Jugendliche hat sie der türkische Staat zweimal ins Gefängnis geschickt: 2009 für 6 Monate und 2012 für 10 Monate.

Internationale Proteste und die regelmäßige Beobachtung der Prozesse durch europäische Gewerkschaften, darunter die GEW, haben bewirkt, dass Sakine 2013 freigelassen wurde. Im Frühjahr 2016 wurde ihr klar, dass ihr durch rechtskräftige Urteile mehr als 20 Jahre (!) Haft drohen. Sie tauchte unter und floh nach Deutschland.

Sakine Esen Yılmaz berichtet von einem Kollegen, den sie hier in Deutschland nach ihrer Flucht getroffen habe: der Vorgänger in ihrem Amt als Generalsekretärin von Eğitim Sen, der türkischen Bildungsgewerkschaft. Er ist in den 1980er Jahren geflohen. Die Geschehnisse in der Türkei sind demnach kein neues Phänomen. Yılmaz sieht das Problem dabei nicht nur in der Türkei, sondern in der ganzen Welt. Ihre Antwort auf die Herausforderungen: sich zusammen zu schließen. Ohne Demokratie gäbe es keine Gewerkschaften. Es sei daher wichtig eine gemeinsame Friedensbewegung ins Leben zu rufen und gemeinsam an der Weiterentwicklung zu arbeiten.

Aus der Türkei bringt Sakine Esen Yılmaz bedrückende Fotos und Berichte mit: Attentate, Selbstmordattentate, Brandlegungen. Ihr Bild von der aktuellen Situation in der Türkei ist das eines Ausnahmezustandes, in dem nicht davor zurück geschreckt würde, Frauen und Kinder ganz bewusst als Zielscheibe zu nehmen. Yılmaz spricht vom sogenannten Neo-Osmanismus als politischem Ziel der Regierung. Die Gesellschaft spaltet sich dabei zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Den Putsch-Versuch selbst hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan als Gottes Geschenk bezeichnet. Durch den Putschversuch konnte er in der Türkei nach seinen Vorstellungen „aufräumen“. 30.000 Lehrerdiplome wurden aberkannt, 177 Medienanstalten verboten, Journalist_innen wurden verhaftet. Mit der Notstandsverordnung ist das Parlament ausgeschaltet; die Zahl der verhafteten Abgeordneten ändert sich fast täglich.

Der Bericht von Sakine Esen Yılmaz gab den Zuhörer_innen einiges zu denken. In der anschließenden Diskussion wurde mehrfach aus dem Publikum gefragt und erörtert, wie man hier in Deutschland und gemeinsam gegen diese aber auch andere demokratiefeindlichen Tendenzen friedlich vorgehen kann. Über Informationsveranstaltungen und Abende wie diesen könne eine breitere Öffentlichkeit und ein Bewusstsein für die drastischen Auswirkungen, die diese Tendenzen für eine freie und solidarische Gesellschaft  haben, geschaffen werden. Global, europaweit und auch vor der eigenen Haustür gelte es den Repressionen und Verletzungen grundlegender Menschenrechte entschlossen und gemeinsam entgegenzutreten. Fest stand für viele Teilnehmende, dass die Solidarität mit den verfolgten Kolleg_innen über die Unterstützung von geflüchteten Aktivist_innen aus der Türkei und von progressiven Initiativen vor Ort weitergeführt und ausgebaut werden muss. Aber auch auf die deutsche Regierung und ihre Politik gegenüber der türkischen Regierung müsste eingewirkt werden.