„Scheinbar keine Vorstellung, was an den Schulen vor Ort los ist“

Diese Pressemitteilung haben die beiden Kreisverbände Kassel-Stadt und Kassel-Land der GEW am 16. September 2024 herausgegeben:

„Scheinbar keine Vorstellung, was an den Schulen vor Ort los ist“

Zur Anweisung des Kultusministeriums, in den Intensivklassen der hessischen Schulen zwei Stunden „Wertevermittlung“ pro Woche zu unterrichten, erklären die beiden Kreisverbände Kassel-Stadt und Kassel-Land der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW):

In einem Brief von Kultus- und Bildungsminister Schwarz und seinem Abteilungsleiter Textor schreiben diese den Lehrkräften im Intensivklassenunterricht zwei Stunden „Wertevermittlung“ vor. In Intensivklassen werden zugewanderte Schülerinnen und Schüler unterrichtet, deren Deutschkenntnisse noch nicht für die Regelklassen ausreichen. „Natürlich vermitteln wir im Unterricht Werte, und zwar jeden Tag, in jedem Fach, ohne dass man uns auffordern müsste“, stellt Katja Groh fest, Vorsitzende der GEW Kassel-Land. „Dass Herr Minister Schwarz in fast schon rechtspopulistischer Manier Werte nur an Kinder mit Zuwanderungsgeschichte vermitteln will, geht mal wieder völlig an der Realität vor Ort vorbei. Natürlich leben wir auch dort Werte vor, müssen aber auch am allgemeinen Sprachniveau arbeiten“, so Groh weiter. Martin Gertenbach, Vorsitzender der GEW Kassel-Stadt, ergänzt: „Werte müssen von einer Gesellschaft vorgelebt werden. Da ist es wenig hilfreich, sogar schädlich, wenn man hier wieder nur eine Gruppe von Kindern selektiert und unterstellt, dass besonders sie Nachhilfe in Sachen gesellschaftliche Werte nötig hätten. Es zeigt uns, wie vergiftet die gesellschaftliche Debatte mittlerweile ist.“

Aus Sicht der GEW steht es außer Frage, dass alle Kolleginnen und Kollegen an den Schulen im Sinne des Hessischen Schulgesetzes unterrichten: „In Paragraf 2 des Schulgesetzes ist der Bildungs- und Erziehungsauftrag geregelt, zum Beispiel auch das Beitragen zu einer gerechten und freien Gesellschaft. Das ist Grundlage unserer tagtäglichen Arbeit“, stellt Gertenbach weiterhin fest, und führt fort: „Übrigens ist dort auch niedergeschrieben, Menschen anderer Herkunft, Religion oder Weltanschauung vorurteilsfrei zu begegnen – etwas, das wir bei den Briefen aus dem Ministerium gerade schmerzlich vermissen.“ Jens Zeiler, Vorsitzender der GEW Kassel Land (im Team mit Katja Groh), erklärt: “Die Verkürzung des Paragrafen 2 auf ‘Bitte und Danke’, was von neu ankommenden Migranten zu lernen sei, legt nahe, dass hier etwas geschieht, was man auch mit dem Begriff Othering beschreibt - ein allgemeines (Verhaltens-)Problem wird vor allem einer Minderheit zugeschrieben. Migranten werden so zu Objekten, die erstmal Anpassung lernen müssen. Dem Bildungsauftrag entsprechend erscheint es jedoch geboten, sie dabei zu unterstützen, sich mündig, selbstständig, und natürlich verantwortlich in unserer Gesellschaft bewegen zu können. Bitte und Danke in zwei Stunden pro Woche zum Thema zu machen, während das Erlernen der deutschen Sprache entsprechend gekürzt wird, ist kontraproduktiv.”

Agnes Pompetzki (GEW Kassel Land) verweist auf einen weiteren Aspekt: “Es erscheint wie Hohn, dass hier weitschweifig Selbstverständlichkeiten ausgeführt werden. Insbesondere dann, wenn man z. B. die rückwärtsgewandte Sicht auf Frauen/Männer bzw. Geschlecht ganz allgemein betrachtet. Es ist nur von zwei Geschlechtern die Rede (dies geht Hand in Hand mit dem Genderverbot) und es werden explizit Stärken von Männern und Frauen thematisiert.”

Die GEW fordert, die wirklichen Probleme an den Schulen anzugehen, statt Scheindebatten zu führen: „Wer solche Briefe schreibt, hat scheinbar keine Vorstellung, was an den Schulen vor Ort los ist. Bei den Kolleginnen und Kollegen brennt die Hütte – alte, unzureichende Schulgebäude, fehlendes Personal, große Lerngruppen, übergriffige Eltern, die Liste ist lang!“, hält Simon Aulepp fest, ebenfalls Vorsitzender der GEW Kassel-Stadt. Aulepp weiter: „Genügend personelle und finanzielle Ressourcen für die Kollegien vor Ort sind das, was wirklich weiterhilft. Dann funktioniert es auch mit der Wertevermittlung.“ Die GEW wird weiterhin für bessere Arbeits- und Lernbedingungen in den Schulen und Bildungseinrichtungen kämpfen, denn das hilft allen – den Lehrkräften genauso wie den zugewanderten und nicht zugewanderten Kindern und Jugendlichen, und damit der gesamten Gesellschaft.